Wie ging es Menschen mit Behinderung im Odenwaldkreis während des Corona-Lockdowns?
Michelstadt/Reichelsheim, 17.07.2020:
„Schön, dass überhaupt Jemand fragt“ oder „Behindertenwohnheime und
Behindertenwerkstätten kommen ja in der Presse kaum vor“, so lauteten
einige der Reaktionen in der Befragung von Menschen mit Behinderung im
Odenwaldkreis bzw. von deren Angehörigen. Die Befragung wurde
durchgeführt im Rahmen des Projekts „Inklusive Nachbarschaft“ des
Diakonischen Werkes Odenwald. Die Ergebnisse sind ausführlich hier nachzulesen.
Die Befragung startete Anfang Mai, als die ersten Lockerungen kamen und die Erfahrungen aus dem Corona-Lockdown noch frisch waren, und konnte bis Ende Juni noch online, per Post oder im Telefoninterview beantwortet werden. Befragt wurden zum einen Menschen mit verschiedenen Formen der Beeinträchtigung, zum anderen Kontaktpersonen (Angehörige und professionell oder ehrenamtlich Helfende). Insgesamt 44 Menschen nahmen teil, davon 34 Menschen mit Behinderung und 10 Kontaktpersonen – zu wenig also für eine Repräsentativbefragung, genug für einen Einblick. Vorwiegend nahmen Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen teil, vielfach auch mit psychischen Beeinträchtigungen oder mit kognitiven oder Lernbeeinträchtigungen (hier dann vermehrt Angehörige).
Die überwiegende Anzahl derer, die erreicht werden konnten, leben
alleine in einer eigenen Wohnung und waren damit während der Zeit des
Lockdowns tatsächlich vom physischen Kontakt mit anderen Menschen
ausgeschlossen. Wenige gingen noch zum Einkaufen nach draußen; die
meisten blieben komplett zu Hause. Für so gut wie alle stand das Telefon
als Kontaktmittel nach außen zu Verfügung, außer dort, wo die
Beeinträchtigung so schwer ist, dass Telefonieren nicht möglich ist.
Über die Hälfte der Befragten nutzte auch WhatsApp und ähnliche
Messenger-Dienste. Weitere Kontaktmöglichkeiten wie z.B. E-Mail wurden
nur vereinzelt genutzt.
Als Grundgefühl herrschte Besorgnis vor; viele waren aber auch
entspannt und fühlten sich nicht anders wie vorher. Einsamkeit war bei
den meisten, die selber geantwortet haben, kein Thema. Anders die
Einschätzung durch die Kontaktpersonen: sie nahmen vor allem Einsamkeit
und Trauer wahr. Hier dürfte eine Rolle spielen, dass v.a. Menschen mit
schwereren Behinderungen gar nicht verstanden haben, warum sich ihr
Alltag so rapide änderte. Therapien und Tagesförderung fielen weg. Eine
Angehörige schilderte, dass sie ihr erwachsenes
schwerstmehrfachbehindertes Kind direkt vor dem Lockdown aus der
Einrichtung genommen hat, weil sie sonst während des gesamten Lockdowns
hätte keinen Kontakt haben dürfen – aber so war natürlich die gewohnte
Umgebung und der Tagesablauf völlig verändert, was entsprechende
Reaktionen von Verwirrung und Unruhe mit sich brachte.
Viele Einschränkungen teilten Menschen mit Behinderung mit der
gesamten Bevölkerung, andere waren und sind aber auch spezifisch:
Genannt wurden die Nachteile, weil medizinische und therapeutische
Anwendungen ausgesetzt waren, ebenso auch verschiedene Angebote der
Behindertenhilfe. Behindertenwerkstätten und Tagesförderstätten waren
lange geschlossen. In einer Behinderteneinrichtung wurde das Essen
teilweise ins Zimmer gebracht; Kontakt unter den Bewohnern war nur
schwer möglich. Gerade in der Anfangszeit des Lockdown ging die
Corona-Kommunikation an Menschen mit Behinderung vorbei. Ein Blinder
hatte zum Beispiel Mühe, sich in den anfangs ständig wechselnden
Vorschriften in den Geschäften zurecht zu finden. Vermisst wurden auch
Informationen in einfacher Sprache, auch in den Wohneinrichtungen.
Menschen mit Lernbehinderung fühlten sich von der Vielzahl
widersprüchlicher Informationen verwirrt und geängstigt. Masken bleiben
für die Kommunikation mit Schwerhörigen problematisch, ebenso wie für
Menschen mit Atembeschwerden. Menschen mit psychischen Schwierigkeiten
litten besonders unter den Kontaktbeschränkungen; Depressionen
verstärkten sich. Hygieneauflagen (v.a. Kontaktbeschränkungen) sind bei
kognitiven Beeinträchtigungen kaum zu vermitteln und umzusetzen.
Angehörige von Behinderten hatten zu Beginn der Corona-Krise das Gefühl,
in der Kommunikation durch Behörden und Presse überhaupt nicht im Blick
zu sein.
Gabriela Hund, Verantwortliche für die Befragung des Diakonischen
Werks, zieht folgendes Fazit: Menschen mit Behinderung werden in der
Öffentlichkeitsarbeit häufig nicht mitgedacht. So brauchte es erst eine
Petition, bis Corona-Infos der Bundes- und Landesregierung auch in
Gebärdensprache erfolgten. Einfache Sprache ist eine Grundkompetenz, die
alle Menschen in PR-Berufen bereits in der Ausbildung erwerben und
anschließend auch anwenden sollten.
Der Lockdown war für Menschen in Wohneinrichtungen für Behinderte
unglaublich hart – ähnlich wie für Menschen in Seniorenheimen. Dass das
Land nun Tablets zur Kontaktaufnahme zu Familie und Freunden zur
Verfügung gestellt hat, ist deshalb ein sehr notwendiger Schritt.
Wichtig ist nun, dass allen Bewohnern von Einrichtungen WLAN und
Telefonanschluss zur Verfügung gestellt werden (soweit noch nicht
geschehen) und das es Personal gibt, das Zeit hat, erste Schritte in der
Benutzung von Tablets zu begleiten. Allerdings lindert die
Digitalisierung das Leid derjenigen Menschen nicht, die nur über
körperliche Berührung überhaupt in Kontakt zu ihrer Umwelt, auch zu
ihrer Familie kommen können.
Menschen mit Behinderung in der eigenen Häuslichkeit litten zwar wie
alle anderen auch unter dem Zuhause-Bleiben-Müssen, konnten dennoch aber
mindestens telefonisch Kontakte pflegen. Für sie gilt das gleiche wie
für Menschen ohne Beeinträchtigungen: Wer vor der Krise schon gut
vernetzt war, findet auch in der Krise Wege des Kontakts.
Die Befragung ist Teil des Projekts „Inklusive Nachbarschaft“
(finanziert von der Glücksspirale), in dem es darum geht, alle in gute
Nachbarschaft und Vernetzung zu bringen, egal ob jung oder alt, reich
oder arm, in irgendeiner Weise beeinträchtigt oder auch nicht. Damit wir
auch in der Krise nicht allein sind.
Mehr Infos in den detaillierten Auswertungen.